Thursday, September 23, 2010

The box in the wardrobe


“Je weiter die Maschen in Berthas Gedächtnis wurden, desto größer die Erinnerungsbrocken, die hindurchfielen. Je verwirrter sie wurde, desto wahnwitziger die Wollstücke, die sie strickte und die durch ständiges Fallenlassen von Maschen, durch Zusammnenstricken oder durch das Wiederaufnehmen neuer Maschen am Rand in alle Richtungen wuchsen und schrumpften, klafften und verfilzten und sich von überall her aufribbeln ließen. Meine Mutter hatte die Strickstücke in Bootshaven zusammengesammelt und mit nach Hause genommen. In einem Karton im Kleiderschrank ihres Schlafzimmers bewahrte sie sie auf. Durch Zufall war ich einmal auf ihn gestoßen und hatte mit einer Mischung aus Entsetzen und Bekustigung eine Strickskulptur nach der anderen auf dem Bett meiner Eltern ausgebreitet. Meine Mutter kam dazu, ich wohnte nicht mehr zu Hause, und Bertha war schon im Heim. Eine Weile betrachteten wir die wollnen Ungeheuer.
- Irgendwo muss schließlich jeder seine Tränen konservieren, sagte meine Mutter wie zur Verteidigung, dann packet sie alles wieder zurück in den Schrank. Wir sprachen nie mehr über Berthas Gestricktes.”

[The more the loops were widening in Bertha’s memory, the bigger the chunks of memory that fell through them. The more confused she became, the weirder the woolen pieces that she knitted, which grew in all directions with stitches dropped, joined and added to the sides, split and tangled, and could be unraveled from all sides. My mother had gathered the knitted pieces in the house in Bootshaven and taken them home. She kept them in a box in the wardrobe of her bedroom. I came across them by chance, and both horrified and amused I spread them out on my parents’ bed. My mother came in, I was no longer living at home at the time and Bertha was in a nursing home. We looked at the woolen monsters for a while.
- We all need to preserve our tears somewhere, my mother said as if defending herself, then she put everything back in the wardrobe. Bertha’s knitting was never mentioned again.]

Katharina Hagena, Der Geschmack von Apfelkernen, Kiepenheuer & Witsch 2010, p. 20, 21

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